Das einmalige Erlebnis

 

Eine von Gott erzählte Novelle

 

Ich bin es, der Verfasser der Welt, der Schreiber des Kurzlebigen und vielleicht auch der Chronist der Ewigkeit, sollte es tatsächlich der Fall sein, dass man in der Ewigkeit weiterhin die Dokumentation des wiederholt oder einmalig da Gewesenen benötigt.

Es ist klar, dass ich in meiner Eigenschaft als Gott hin und wieder gewisse Wunder hervorbringen kann. Es läuft darauf hinaus, dass ich Wunder als meine Pflicht oder als mein gutes Recht betrachte. Ich wirke mit ihnen Ungerechtigkeiten entgegen oder nutze sie einfach, um die Menschen zu überraschen, um sie wachzurütteln, damit sie nicht einschlafen oder völlig versteinern, damit sie an mich glauben.

Das Wunder, von dem ich jetzt erzählen werde, ist in keiner Kirchengeschichte verzeichnet worden, denn weder Päpste noch Heilige sind daran beteiligt, nur ich und meine Geschöpfe. Es ist auch nicht in der Vergangenheit geschehen, sondern geschieht gerade jetzt, in diesem Augenblick, während ich es beschreibe.

Es sind meine Liebe zur Menschheit und ein in mir neues Gefühl von Notwendigkeit, die mich dazu treiben, Wunder uneingeschränkt aus vollen Händen über die ganze Welt zu verstreuen. Ich war nie ein theatralischer Gott, ich war immer bescheiden, was die Gestaltung der Wunder betrifft. Ist es nicht schon Wunder genug, dass es den Menschen gelingt, ihr Rülpsen, ihr Niesen, ihre Tränen und vieles mehr zu unterdrücken? Nicht nur die schöne Natur, sondern viele Unterdrückungsmechanismen sind ein Teil des ewigen Wunders. Das größte aller Wunder, mein persönlichstes, unübertreffliches Kunstwerk, aber ist, dass der Mensch den Tod vergessen kann.

Heute bin ich verschwenderischer als sonst, euphorischer. Ist es meine Kindheit oder meine Senilität, die mich so umklammert? Ich habe eine plötzliche Lust zu spielen, ich möchte uns allen ein einmaliges Erlebnis verschaffen, welches später viel Stoff zum Nachdenken geben wird. Wen will ich beeindrucken, mich selbst vielleicht? War es nicht ein bisschen dumm von mir, dass ich so viele Gelegenheiten verpasst habe, dass ich so viele Jahrhunderte lang untätig gewesen bin? Ich war wie versklavt, gefesselt; nur die Menschen durften handeln, ich habe nur äußerst selten eingegriffen.

Es ist höchste Zeit, dass Gott einen Witz erzählt, und vielleicht ist der Witz nicht nur humorvoll, sondern eine sinnvolle Lehre für uns alle. Nein, was jetzt kommt, ist kein Witz, sondern eine sehr ernste Geschichte der freudigen Erschütterung und Lebensintensität. Ich habe ein Wunder an der schönen Liana Pardo, einem kubanischen Mädchen, vollbracht.

 

 

Aus: "Die Erfindung des Erlebten", Essen, 2000

Verlag: Bruno Runzheimer