Die Urgellstraße und Torre Molinos - Auszug aus "Das Siegel brechen"

Die Deutsche Rosa Müller, in Barcelona geboren, verbrachte ihre Kindheit dort. Nach zwanzig Jahren, 1990, besucht sie Spanien wieder, jetzt als Touristin.

Das erste, was mich in Spanien wundert und mich sehr aufmerksam aufhorchen lässt, ist das politische Klima, dass keiner mehr von der Diktatur spricht. Franco scheint vollkommen vergessen zu sein. Habe ich ihn vielleicht selbst erfunden?

Jahre lang hatte er die Spanier mit seiner hässlichen, stotternden Stimme und mit seinen uninteressanten, ausdruckslosen Reden gequält. Die Gestalt des spanischen Diktators war wenig attraktiv, eher unbeholfen und ohne Höhepunkte. Er glich vielen Diktatoren Lateinamerikas, insofern als er nur den brutalen Mechanismus der militärischen Macht kannte und ansonsten kein Genie, keine Redegewandtheit besaß. Franco mit seinem Stottern war vielleicht nicht weniger bedrohlich als der "Meister aus Deutschland“. Folter und Todesurteile waren keine Seltenheit. Aber seine Wirkung schien weniger bedeutend, weniger kraftvoll und angsteinflössend.

Die spanische Hymne der uns verhassten "Movimiento Nacional" war für uns der Inbegriff der Dummheit und der Langeweile. "Hoch lebe Franco und hoch lebe Spanien" ertönte bei den Nachrichten im Radio und Fernsehen jahrelang in leitmotivischer Krankhaftigkeit.

Ich bin ratlos wie ein ungeschickter Geist der achtundsechziger Revolution, der, ignoriert und aus der Mode geraten, sich in den neunziger Jahren zurechtfinden muss.

 

 

Aus: "Zwei Länder, die sich lieben - Geschichten aus Spanien und Deutschland, Bonn", 2006

Verlag: Free Pen Verlag