Auszüge aus meiner Eröffnungsrede

 

Rede zur Eröffnung des Festivals der multikulturellen Literatur in NRW am 31.08.2015

 

von Dr. Pilar Baumeister, Sprecherin der Schriftsteller mit Migrationshintergrund im VS NRW

 

Nach unserem Dank an alle Institutionen, die die Verwirklichung dieser drei Tage multikultureller Literatur ermöglicht haben, beziehe ich mich auf die Entstehung und die Motivation des Projekts.

Als Vorläufer des Festivals können die neun kleinen Lesungsreihen angesehen werden, die seit 2006 vom Kulturamt der Stadt Köln gefördert und einmal im Jahr in Köln stattgefunden haben. (Siehe dazu ausführliche Auskunft in Programme der IKW und Nachfolge der IKW.)

Wir wollen bei diesem Festival die Arbeit von Autorinnen und Autoren mit Migrationshintergrund in NRW und auch in anderen Bundesländern würdigen und ein Zeichen setzen, dass eine neue Weltliteratur entstanden ist, wie Sigrid Löffler sagt, die über Grenzen und herkömmliche Nationalitätsbegriffe hinausgeht. Wir feiern eine vorurteilsfreie Offenheit zu anderen Ländern, die ermöglicht, dass viele Autoren binational sein können oder zumindest eine gewisse Nähe zum Land ihrer Eltern oder Vorfahren bekennen und trotzdem Deutsch als ihre Literatursprache gewählt haben.

Auch das interessante Phänomen des Sprachwechsels soll in der Podiumsdiskussion und in weiteren Beiträgen zur Sprache kommen. Einige Autoren lassen ihre Werke ins Deutsche übersetzen, auch wenn sie schon viele Jahre hier leben; andere dagegen schreiben direkt auf Deutsch; einige schreiben in zwei Sprachen wie Yoko Tawada, Japanisch und Deutsch, und andere befinden sich in einem Zwischenstadium und würden wahrscheinlich bei mehr Unterstützung und mehr Integrationshilfen von Lektoren, Verlagen und Veranstaltern auch den Sprachwechsel mitmachen. Wenn sie wenig Erfolg und nur Schwierigkeiten in der neuen Sprache

haben, ziehen sie sich in die Muttersprache zurück und versuchen nur noch ihre Werke in der alten Heimat zu veröffentlichen.

Ich persönlich möchte anhand dieses Festivals, das so viel Qualität und niveauvolle Arbeiten zeigen wird, mit einer Menge von Vorurteilen aufräumen, die besonders in den ersten 20 Jahren meines Aufenthalts in Deutschland sehr stark waren:

 

1. Ein Vorurteil war, man könne nur in der Muttersprache authentisch schreiben, man verliere die eigene Identität beim Schreiben in einer Fremdsprache. Thomas Manns und Klaus Manns Werke auf Englisch seien nicht so gut wie ihre deutschen.

2. Die Qualität der Migrantenautoren sei dem zufolge und auch wegen der „Thematik der Betroffenheit“ als sogenannte „Gastarbeiterliteratur“, ästhetisch minderwertig, keine anspruchsvolle Literatur.

 

Dass ich mir damals solche Vorurteile nicht eingebildet habe, kann man an einem Aufsatz von Dr. Klaus Hübner sehen. Er schildert dort die Lage damals und die spätere Veränderung. Ich zitiere:

 

„Die Migrantenliteratur, die vor 1985 noch eher ein Schattendasein führte, hat in den letzten 20 Jahren äußerst unterschiedliche poetische Konzepte entwickelt und damit die deutsche Literatur bereichert und internationalisiert. 

Heute gehören einige ihrer Autoren zu den bekannten und viel gelesenen Schriftstellern deutscher Sprache, Feridun Zaimoglu oder SAID, Rafik Schami oder Terézia Mora, Herta Müller oder Zsuzsa Bánk haben sich auf dem Buchmarkt etabliert und sind mit ihren Romanen, Erzählungen und Gedichten wichtige Repräsentanten der heutigen deutschen Literatur. 

 

Post-nationaler Diskurs 

Als Migrantenliteratur (auch: Migrationsliteratur) bezeichnet man in der Regel sprachliche Kunstwerke, deren Autoren einen einschneidenden Kultur- und meistens auch Sprachwechsel hinter sich haben. Die meisten von ihnen verfassen ihre Werke in deutscher Sprache; manche, zum Beispiel fast alle rumäniendeutsche Schriftsteller, haben das schon immer getan. 

Andere Autoren hingegen halten an ihrer Herkunftssprache fest, obwohl sie seit langer Zeit im deutschsprachigen Raum leben, von den Formen, Themen und Motiven ihrer Texte her sind auch sie der Migrantenliteratur zuzurechnen. 

Folgt man der nicht nur auf Deutschland bezogenen Forschung, ist Migrantenliteratur ,nicht nur ein trans-nationaler, sondern ebenso ein post-nationaler Diskurs'. Sie konstituiert sich erst in ihrer Schreibweise und ist per se nicht an Zuschreibungen von Sprache und Herkunft der Autoren gebunden. 

Charakteristisch für diese Schreibweise ist zuallererst ihre kulturelle Vielschichtigkeit,  was insofern nicht ganz neu ist, als es die deutsche Literatur, man denke nur an Adelbert von Chamisso, Franz Kafka, Elias Canetti oder Jurek Becker, als reine ‚Monokultur’ nie gegeben hat (Carmine Chiellino).

 

Literarische Vertreter einer hybriden Mischkultur 

Mit dem Auftauchen von Schriftstellern, die der zweiten oder dritten Migrantengeneration angehören und sich immer häufiger dem ‚Konflikt zwischen Vereinnahmung und Ausgrenzung’ (Karl Esselborn) zu entziehen suchen,

scheint die Migrantenliteratur allmählich in der deutschen Literatur aufzugehen. 

Autoren wie Zafer Şenocak, José F.A. Oliver oder Zehra Çirak wollen sich weder der

ausländischen noch der deutschen Seite zurechnen lassen.

 

Neue Tendenzen in der ‚Migrantenliteratur’

Der Gast, der keiner mehr ist

Die deutsche Migrantenliteratur hat sich in den letzten 50 Jahren stark verändert.

Die ‚Gastarbeiterliteratur’ ist weit überholt. Die neue Generation der Literatur mit

Migrantenhintergrund ist endlich in der ‚Normalität’ angekommen.“

(Quelle: Die deutsche Migrantenliteratur – Unübersehbare interkulturelle Vielfalt http://de.qantara.de/inhalt/migrantenliteratur-in-deutschland-unubersehbare-interkulturelle-vielfalt )

 

 

Aber was heißt, „Normalität“? Die multikulturelle Literatur ist so vielschichtig, komplex und reich, dass es ein Genuss ist, sie zu betrachten. In den nächsten drei Tagen werden wir einen Blick darauf werfen.

Ich beende meine Ausführungen mit einem Beispiel, aus einem Essay von Yoko Tawada „Erzähler ohne Seelen“ (in „Talisman“, 1996):

„Ich habe bei meiner ersten Fahrt nach Europa mit der transsibirischen Eisenbahn meine Seele verloren. Als ich dann mit der Bahn wieder zurückfuhr, war meine Seele noch in Richtung Europa unterwegs. Ich konnte sie nicht fangen. Als ich erneut nach Europa fuhr, war sie auf dem Weg nach Japan. Danach bin ich so oft hin- und hergeflogen, dass ich überhaupt nicht mehr weiß, wo meine Seele gerade ist.“