Blind aber nicht unfruchtbar

Bereits an der Ausdruckslosigkeit der Frau hatte der Mann gesehen, dass etwas nicht ganz in Ordnung mit ihr war. Der mangelnde Blickkontakt hätte ihm schon eine Warnung sein müssen. Aber er konnte die neue Situation nicht genau überblicken. So sagte er erstaunt in einer Haltung zwischen Unglauben und halbem Verstehen:

„Können Sie meinen Namen nicht lesen?"

Wie alle Seminarteilnehmer und nach Anweisung des Dozenten hatte er seinen Namen auf einen Zettel geschrieben; so brauchte man ihn nicht zu buchstabieren; es war viel bequemer. Aber die Frau sah ihn nicht.

"Leider nicht," bestätigte sie tapfer und zur Aufklärung entschlossen.

Er versuchte, sich auf die für ihn fremde Lage einzustellen.

"Nicht einmal den Zettel hat sie wahrgenommen."

Er rechtfertigte sich selbst mit dem Gedanken:

"Es ist schwer zu wissen, wie viel die anderen sehen können oder nicht."

Die Frau dachte mit Erleichterung:

"Aufgeklärt, aufgeklärt. Jetzt weiß er es."

So fand die Vorstellung zwischen dem sehenden Mann und der blinden Frau statt, ihr erster gegenseitiger Eindruck entstand, der im Laufe der weiteren Beziehung nicht mehr oder vielleicht nur unwesentlich zu korrigieren sein würde.

Der Mann bemühte sich um eine geschicktere Handhabung des Problems:

"Mein Name ist Steinhausen," sagte er, aber so leise, dass sie nur „Hausen“ verstand.

"Mein Name ist Bruckmann," sagte sie.

"Später werde ich den Namen wiederhören," dachte sie. "Es ist nicht notwendig, dass ich jetzt wieder frage. Ich schäme mich dessen, nicht richtig hingehört zu haben."

Steinhausen sprach kurz mit anderen Leuten, die auch in der Nähe waren und fühlte sich wohler.

Bruckmann hätte gerne erfahren, wie viele Leute sich in dem Raum aufhielten und wie der Raum genau aussah. Doch die Sehenden gaben selten solche Erklärungen ab, es sei denn in Augenblicken der Gefahr, („Vorsicht, hier kommen noch drei Stufen") oder der Eitelkeit ("fühlen Sie mein Gesicht und sagen Sie mir, wie ich aussehe"). Nur dann schienen die Sehenden zu registrieren, dass man den Blinden an der Entdeckung der Außenwelt teilnehmen lassen könnte und vielleicht sollte. Sie beschwichtigte ihre Neugierde, denn es wäre auffallend gewesen, wenn sie plötzlich gefragt hätte: "Wo ist der Heizungskörper? Hat der Raum zwei Türen? Wo befindet sich die Toilette draußen? Sitzen wir im Kreis oder in Reihen? Was schreibt der Lehrer an die Tafel? Und was sind diese Zettel? Ach ja, die Namen!"

Alle stellten sich auf diese Art und Weise vor. Es war das übliche Verfahren. Die Kärtchen mit den Namen lagen auf dem Tisch, und so konnten die Kursteilnehmer sich gegenseitig besser ansprechen.

Sie sagte ihren Namen laut und dachte:

"Das wird auch genügen, denn schreiben kann ich ihn leider nicht."

 

Aus: "Frauen schreiben Geschichten", Bonn, 1989

Verlag: Marabuch