Zwei Viertel der Grenzen

„Ich bin nicht mit dem Minister verwandt.“

„Das wissen wir, Fräulein Vila. Aber das wäre nicht so schlimm. Wenn Sie bloß nicht blind wären!“

Immer wenn ich nervös bin, sage ich solche unsinnigen Dinge:

„Ich bin nicht die Tochter Francos, ich bin nicht die Nichte des Bischofs“.

Quatsch! Ich sage es nie, ich denke es nur. In einer Diktatur denkt man viel und sagt wenig, und damals gab es eine. Jetzt nicht mehr. Jetzt wohne ich auch irgendwo anders... Aber die alte Gewohnheit bleibt, und immer wenn ich nervös bin, Muss ich daran denken. Es ist wie ein Reflex meines Denkens. Barcelona war damals in den siebziger Jahren schon eine Großstadt. Ach! Warum erzähle ich so präzise und doch wie aus der Ferne, als wäre ich eine Großmutter? Ich bin noch keine. Doch ist es wahr, dass schon viel Zeit vergangen ist. Ich könnte meinen ungeborenen Kindern und Enkeln die Geschichte erzählen, wie ich mit neunzehn Jahren Deutsch zu lernen begann.

Ja, es war in Barcelona. Dort befand sich das Deutsche Kulturinstitut, welches eine reiche Palette an Kursen und Abschlusszeugnissen des Goetheinstituts in München anbot.

„Fräulein Vila, Sie sind jung und klug, aber... Überschätzen Sie Sich nicht. Sie sind blind und haben auch nicht die entsprechenden Bücher. Wäre es nicht besser für Sie, wenn Sie Privatunterricht nehmen würden? Sie brauchen einen geduldigen Lehrer, der auf Sie eingehen kann und Zeit für Sie hat. Deutsch ist eine sehr schwierige Sprache. Ich kann es gut beurteilen, weil meine Mutter Deutsche war und mein Vater aus Katalonien, aus einer sehr gebildeten Familie. Ich bin in der glücklichen Lage, die Strukturen der beiden Sprachen miteinander vergleichen zu können. Diese sind sehr verschieden. Katalanisch oder auch Spanisch sind keine Hilfe, glauben Sie mir. Es wäre leichter für Sie, wenn Sie Französisch oder Italienisch lernen würden.“

„Das kann ich bereits. Englisch und Russisch beherrsche ich auch einigermaßen. Bitte, lassen Sie es mich versuchen. Privatunterricht kann ich mir nicht leisten, hätte ich auch nicht so gerne, ich möchte aus dem Haus und unter Menschen sein.“

 

Aus: "Die Erfindung des Erlebten", Essen, 2000

Verlag: Bruno Runzheimer