Meine Abschlussfeier
"Es war eine sehr schwierige Prüfung. Ich bin froh, sie bestanden zu haben."
"Möchten Sie eine kleine Rede halten, um sich zu bedanken, dass so viele Menschen zu Ihrer Feier gekommen sind?"
Eine Rede halten ist riskant. Ich sage lieber nur "danke" und beginne mit meiner Feier. Ich möchte nicht das schöne Ergebnis der Prüfung jetzt mit einer schlechten Rede verderben. Nie war ich so stolz auf mich selbst wie nach dieser Prüfung, nach meinem glänzenden Abschluss.
Aber wie kann man sich danach angemessen, mit der entsprechenden Würde verhalten?
Hart verdientes Brot, das ich mit meinen schlechten Zähnen kaum beißen kann und deshalb nur zerkaue und zerdrücke, zerrede. Deshalb ist es mir wirklich lieber, keine Rede zu halten, nur zu feiern.
"Möchten Sie neben Ihrem Vater sitzen, Renate? Er ist auch sehr stolz auf Sie."
Der Professor hat nur einmal gratuliert. Ja, die gratulieren nur einmal; zweimal wäre unüblich und übertrieben. Mit so einem Professor kann man wenig anfangen. Der kommt auch nicht zur Feier. Seine Unerreichbarkeit ist wohl durch seine Autorität begründet und steht außer Diskussion.
Er ist nicht da, und mein Vater auch nicht. Im Grunde sind wir sehr wenige auf der Feier. Nur die vier Mädchen sind wir, die wir damals die Prüfung am selben Tag gemacht haben. Mädchen? Eine der Frauen oder der Mädchen hat Piccolos gebracht; wir trinken alle den Sekt aus den kleinen Flaschen und wünschen uns gegenseitig Glück für die Zukunft. So kleine Flaschen und so eine große Zukunft! Um die Wahrheit zu sagen... es ist keine Feier im eigentlichen Sinne, wir sitzen bloß im Foyer des Instituts und unterhalten uns über die bestandene Prüfung und gratulieren uns gegenseitig mit unseren Plastikbechern in den Händen. Die richtige Feier machen wir später.
Melissa Dörfer hat einen russischen Ehemann und ich beneide sie darum. Es ist viel leichter für sie als für mich, sie wird die Sprache nie verlernen.
... Ich, Renate Hoffmann, ich bin die Älteste von den vier Frauen. Aber jung fühle ich mich, weil die anderen alle noch jung agieren und noch Studentinnen sind. Nein, nach diesem Abschluss sind wir keine Studentinnen mehr, und sowieso ist es nicht mein erster Abschluss, sondern der zweite oder der dritte, wenn man Abitur als Abschluss mitrechnet; der vierte, wenn man meine Jahre als Klavierspielerin in Frankreich mitzählt, in denen jedes Konzert immer zu einem feierlichen Abschluss führte. Wie viele Abschlüsse habe ich überhaupt?
Von einer Privatschule bekam ich auch ein Zeugnis als Märchenerzählerin und irgendwo bekam ich einen Abschluss als Marketingspezialistin. Ich glaube, ich habe mein ganzes Leben nur studiert und mich auf die Erlangung wichtiger Zeugnisse trainieren lassen.
Doch gibt es schon gewaltige Unterschiede in der Form des Erreichten. Mein Hauptabschluss hatte auch etwas mit Sprachen zu tun wie diese jetzige, verspätete Prüfung für Russisch. Damals war ich Mitte zwanzig und wurde zu einer fleißigen, diplomierten Übersetzerin, Englisch-Deutsch. Ich lebte ein ganzes Jahr in den vereinigten Staaten mit Lucila Chester, einer sehr guten Freundin, der Tochter eines berühmten Jazz-Komponisten. Dann lernte ich etwas Neues, weil das Übersetzen mich frustrierte und mir wenigere Freude als die Musik bereitete.
Eine Zeit lang lernte ich Journalismus in einer Schule, Selbstverteidigung in einer anderen, Vereinswesen in einer dritten, Astrologie in einer vierten. Aber all diese Dinge führte ich nicht zu Ende, genau so wenig wie die vielen unterbrochenen Kurse, bei denen ich nicht der Versuchung widerstehen konnte, mich trotz des Zeitmangels anzumelden und das Einschreibungsgeld auszugeben: Führerschein, Sterbehilfe, Therapie für abtreibende Mütter, für Gefangene, für Arbeitslose... Erforschung der eigenen Träume, Pflege und Herstellung von alten Gebäuden usw. Eine Kette von Lehrveranstaltungen scheint meine Schicksalsbestimmung zu sein, im selben Maße wie für andere eine Kette von Sexorgien oder von elenden Arbeitstagen in einer Fabrik das unvermeidliche Schicksal darstellen.
Aus: "Zwei Länder, die sich lieben - Geschichten aus Spanien und Deutschland", Bonn, 2006
Verlag: Free Pen Verlag