Die Hymne der Behinderten
Bei meiner Geburt
wurde ich nicht getötet.
Die Menschen sind gut.
„Oh, ja, ja!“
Sie verachten mich aber,
missverstehen mich und meine Bedürfnisse.
Die Menschen sind schlecht.
„Oh, nein, nein!“
Sie bauten und bauten spezielle Dinge für mich:
Rollstühle, Lorm-Alphabet der TaubStummen,
Blindenschrift.
Ich konnte soviel lernen
und mein Leben genießen,
dass ich „normal“ wurde.
Die Menschen sind gut.
„Oh, ja, ja!“
Sie hatten nur Blitze von Interesse an mir,
aber keine Wärme, keine Liebe,
nur zur Schau wurde ich mitgeschleppt
bei Inszenierungen von gutem Willen.
Die Menschen sind schlecht.
„Oh, nein, nein!“
Manchmal bekam ich Geschenke des Schicksals,
die mein Leid milderten,
Geld für Taxi und Begleiter,
Brillen und Prothesen umsonst,
einen schönen Computer am Arbeitsplatz
und monatliche Abfindungen als Trost.
Die Menschen sind gut.
„Oh, ja, ja!“
Aber warum verstehen sie mich nicht,
wenn ich mit ihnen spreche?
Warum versperren sie mich in einen Raum
und dann laufen sie weg,
so schnell sie nur können?
Die Menschen sind schlecht.
„Oh, nein, nein!“
Sie brachten mir das Singen bei,
die Poesie, die Kunst.
Einige (Familie und Freunde) hatten Mitleid
mit mir, weil ich so ohne Augen, Beine
oder Gehör leben muss.
Und wir weinten sogar tiefverbunden
Zusammen. Die Menschen
sind gut.
„Oh, ja, ja!“
Doch als ich sagte: „Jetzt habe ich es überwunden,
jetzt bin ich normal dank eurer Hilfe,
ich kann normal arbeiten und mich freuen,
dass ich mit euch lebe“,
da wandten sich viele von mir ab
und wollten es mir nicht glauben.
Und sie gaben mir keine Arbeit,
keine Ziele, nur Gedanken.
Die Menschen sind schlecht.
„Oh, nein, nein!“
Sie sagten,
- am Anfang meines Lebens
und auch später -
ich sei nicht geistig behindert.
Das war eine große Erleichterung,
da kann ich soviel mit meinem Intellekt tun.
Die Menschen sind gut.
„Oh, ja, ja!“
Doch ich habe mich total
Verrannt und verrechnet;
ich hätte genau so gut
geistig behindert sein können,
hätte die gleiche Behandlung
erfahren. Was nützt mir der ganze Intellekt,
wenn man nur den kranken Teil
meines Körpers beachtet?
Die Menschen sind schlecht.
„Oh, nein, nein!“
Nicht nur
schlecht, sondern dumm.
Am Anfang versprachen sie mir noch
verantwortungsvolle Aufgaben:
ich sollte mich nur darauf Vorbereiten,
so machte ich viele Umschulungen durch
und wurde so leistungsfähig wie die Normalen, Gesunden,
die es duldeten und sogar ermöglichten.
Die Menschen sind gut.
„Oh, ja, ja!“
Aber dieses ewige Misstrauen...
Wann geht es zu Ende?
Und warum reden sie immer nur
von meiner Behinderung.
Ich kann es nicht mehr hören.
Die Menschen sind schlecht.
Pilar Baumeister